Meine Schwester
Während ihrer Kindheit verbindet die Autorin Bettina Flitner und ihre größere Schwester eine enge Freundschaft. Die Mutter leidet an einer wiederkehrenden Depression: „ Da waren sie wieder. Die schwarzen Raben: Meine ganze Kindheit und Jugend über waren sie da. Sie näherten sich langsam, aber unaufhaltsam. Und dann waren sie da, ließen sich draußen auf den Bäumen nieder. Sie warteten, bis es so weit war- und mit einem Schlag waren sie im Haus. Sie setzten sich überall hin, in die Küche, an den Esstisch, auf das Sofa. Sie waren im Flur, auf der Treppe und im Badezimmer. Sie saßen da, und sie blieben. Wie lange sie bleiben, wusste man nie. Einen Monat. Drei Monate. Oder länger? “ Gleichzeitig ist die Ehe der Eltern zerrüttet und die mögliche Trennung ihrer Eltern hängt als ständige Bedrohung über ihnen. In ihrer Kindheit ist daher die Schwester für die Autorin eine wichtige Bezugsperson. Eine Schwester, die auf den ersten Blick voller Lebensfreude, Stärke und Ideen steckt und mit ihrer Energie die Menschen mitreißt. Aber dahinter verbirgt sich auch noch eine ganz andere Persönlichkeit, geprägt von Angst, Unsicherheit und Trauer, die mit zunehmendem Alter immer häufiger zutage tritt. Beide Schwestern gehen sehr unterschiedliche Lebenswege, die Verbindung reißt jedoch nie ab.
Eingeschoben sind Erinnerungen und Gedanken an den Tag, als die Autorin vom Suizid ihrer Schwester erfährt, was sie selbst an diesem Tag gemacht hat, welche Anzeichen es möglicherweise gegeben hat, ob sie die Tat hätte verhindern können. In diesem Buch wird nichts beschönigt, nicht die Trauer, die Wut und die Hilflosigkeit angesichts der Depression und ihrer Folgen und trotzdem strahlt es auf seine Art Lebensfreude und -bejahung aus. Es werden Fragen gestellt, aber keine Lösungen gegeben. Und gerade dennoch kann es helfen, wenn Menschen sich so offen und mutig wie die Autorin mit diesem Thema auseinandersetzen. „ Meine Fragen habe ich nicht beantwortet bekommen. Im Gegenteil. Es sind noch mehr Fragen hinzugekommen. Aber vielleicht ist es ja so, dass die Fragen wichtiger sind als die Antworten. Eins aber hat sich grundlegend verändert. Schon als ich schrieb, habe ich es gemerkt. Das Gefühl des Ausgeliefertseins wich. Es wurde leichter, immer leichter. Ich tauchte zurück und holte Stück für Stück hoch.“
Der Verlag schreibt:
Kann ein Buch einen Lebensschmerz überwinden? Ja.
Als die Fotografin Bettina Flitner vor einigen Jahren vom Suizid ihrer geliebten Schwester erfuhr, waren die ersten Reaktionen Schock, Lähmung und Verzweiflung. Doch dann entschied sie sich zum Erzählen. Das Ergebnis ist ein tief bewegender, meisterhafter Text, ein Buch der Befreiung.
Mit einem an der Fotografie geschulten, unbestechlichen Blick, voller Hingabe, Witz und Traurigkeit erzählt Bettina Flitner die Geschichte einer innigen Geschwisterbeziehung: eine Kindheit der 70er Jahre, die Jahre auf der Waldorfschule, die Erinnerung an die charismatischen Großeltern, darunter ein berühmter Reformpädagoge, der Vater ein Kulturmanager und Exponent des links-liberalen Bildungsbürgertums der alten BRD, ein Jahr in New York, die Ferien auf Capri, die ersten Liebesabenteuer in der Pubertät. Und dann die Risse: die Überforderung der Kinder durch das Leben der Eltern im Zeichen sexueller Libertinage, die Flucht der Mutter in die Depression, die unerfüllbaren Berufserwartungen der Eltern an die Töchter. Bettina Flitners Buch ist ein bewundernswert mutiger Schritt, sich den Gespenstern der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen, sich von diesen zu befreien und so den Tod geliebter Menschen verarbeiten zu können. Ein Buch über ein Thema, das für viele Menschen immer noch von Tabus und Schweigen besetzt ist.