Aline
Größte Kunst oder ein kleines Meisterwerk?
Aline hat nun sicher ihr schönstes Gewand bekommen seit Erscheinen von Charles F. Ramuz` Debütroman aus dem Jahr 1905. Der Zürcher Limmat Verlag hat in loser Folge schon einige Bücher von Ramuz auf deutsch neu aufgelegt, diesem hier kann man schon in seinem bemalten Leinen kaum widerstehen. Die Handlung ist einfach und klar, fast vorhersehbar und kann dann doch überraschender nicht sein.
Die siebzehnjährige Aline, die in einem Schweizer Dorf mit ihrer Mutter Henriette zusammen lebt, wird dem stattlichen Julien vom Gutshof begegnen. Ihre Treffen sind heimlich, im Wald, am Waldrand, zunächst voller Zögern, dann voller Verliebtheit, von Alines Mutter nicht erwünscht und schließlich verboten.
Leser und Leserin warten längst auf die Tragödie, die sich anbahnt, als für Julien die Treffen viel zu langweilig werden, ohne Überraschungen und Aline, die ihn Anhimmelnde, bleibt alleine. Nach der Trennung wird Aline ihre Schwangerschaft bemerken. Die Ungeliebte stürzt in tiefstes Unglück. Das ist nur der Beginn der Tragödie. Ramuz erweist sich als klarer unsentimentaler Erzähler, und doch scheint sich die Weisheit des Lebens auf gerade einmal 140 Seiten zu entfalten. Dieser kleine Roman ist filmhaft, filmreif in jedem Fall, viele Verhaltensmuster zeitlos, wo es um das Glück und Unglück von Menschen geht, das sich ins Leben einschreibt. Die grandiose Sprache malt große Gemälde in unseren Köpfen. Ein seltenes und betörendes Fundstück.
Zum Autor:
Charles Ferdinand Ramuz
«Ich bin 1878 zur Welt gekommen, aber sagen Sie es nicht. Ich bin als Schweizer zur Welt gekommen, aber sagen Sie es nicht. Sagen Sie, dass ich im Pays-de-Vaud zur Welt gekommen bin, einem alten savoyischen Land – das heißt dem Languedoc, dem französischen Sprachraum zugehörig –, und an den Ufern der Rhone, unweit ihrer Quelle. Ich habe Altphilologie studiert; sagen sie es nicht. Sagen Sie, dass ich bestrebt war, kein Altphilologe zu sein, was ich im Grunde nicht bin, sondern ein Enkel von Winzern und Bauern, und es war mein Wunsch, ihnen Ausdruck zu geben. Doch ausdrücken heißt erweitern. Mein tiefstes Bedürfnis ist es, zu erweitern … Ich bin ganz jung nach Paris gekommen; in Paris und wegen Paris habe ich mich kennen gelernt. Während zwölf Jahren habe ich jedes Jahr wenigstens einige Monate in Paris verbracht; und die Reisen von Paris heim und von daheim nach Paris sind meine einzigen Reisen geblieben! (Außer jener, die ich aus Religion unternommen habe, der Rhone nach bis ans Meer, mein Meer.)»
Ramuz war mit Mitteilungen über seine Person äusserst sparsam. In seinem Tagebuch, das er vor der Veröffentlichung überarbeitete, findet man nur wenige Hinweise auf sein Privatleben. Sein umfangreicher Briefwechsel gibt nur Aufschluss über seine literarischen Projekte und über das kulturelle Leben der damaligen Westschweiz.
Ramuz wurde am 24. September 1878 in Lausanne geboren; sein Vater hatte ein Kolonialwarengeschäft und war später Weinhändler. Nach dem Collège classique besuchte Ramuz das Gymnasium und liess sich 1896 in der philosophischen Fakultät einschreiben. Ein Aufenthalt in Karlsruhe hinterliess wenig Erinnerungen, dafür den Entschluss, Dichter zu werden. Nicht ohne Schwierigkeiten erhielt er vom Vater die Erlaubnis, seine Studien in Paris fortzusetzen, um eine Doktorarbeit über den Dichter Maurice de Guérin zu schreiben. Daraus wurde nichts, dafür fand er sich in Paris als Dichter. Mehr als zehn Jahre verbrachte er – mit längeren Unterbrüchen – in Paris. Dort lernte er auch seine Frau kennen, die Malerin Cécile Cellier. Im Krieg lernte er Igor Strawinsky kennen; aus ihrer Zusammenarbeit entstand die «Histoire du Soldat».
Von 1926 an veröffentlichte der Pariser Verlag Grasset seine Werke. 1936 erhielt er den Grossen Preis der Schweizer Schillerstiftung. Ramuz starb am 23. Mai 1947 in Pully bei Lausanne.