Empfohlen von Andy Reinard
„Gerade habe ich diesen Film gesehen, mit Tom Schilling, wo er durch Berlin irrt. Grässlicher Film. Junge, ratlose Männer, das muss nicht sein“ zitiert der Ich-Erzähler aus einem Telefonat seine Mutter. Und genau das ist Kaleb Erdmann in seinem neuen Roman Die Ausweichschule. Sowohl der Ich-Erzähler als auch ein junger, ratloser Mann. Literarisch und überhaupt etwas unsicher steigt er in seine Lebensgeschichte ein, wie er als elfjähriger Schüler den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei dem 17 Menschen starben, erlebte. Wie sein Umfeld, vor allem aber er sich selbst die Frage stellt, ob sein „nur dabei gewesen sein“ reicht, um zwanzig Jahre später ein Buch darüber zu schreiben? Unbeholfen und nüchtern wird aus den offiziellen Protokollen des Tathergangs zitiert. Aber mit jeder Seite erhärtet sich mehr und mehr der Verdacht, dass der Autor uns bewusst hinters Licht geführt hat und von Anfang an ganz genau wusste was er tut bzw. schreibt. Kaleb Erdmann zieht uns leichtgläubig in eine kleine Geschichte hinein – seine Geschichte –und 100 Seiten später finden wir uns mit einem tennisballgroßen Kloß im Hals, in einem atmosphärisch dicht erzählten und tiefbewegenden Trauma wieder, welches man weder aus der Hand legen will noch kann. Ein Kollektivtrauma, in dem Fünftklässler noch Wochen nach dem Amoklauf auf den Boden hechten oder sich hinter einem Schrank verkriechen, wenn unvermittelt der Klassenraum geöffnet wird. Eine Mitschülerin beim Gedicht rezitieren bei einer Zeile, ohne es zu merken, hängenbleibt, wie die Nadel in einer zerkratzten Platte, oder ein Junge plötzlich im Sportunterricht fehlt und nach ewigem Suchen allein in einem Sprungkasten gefunden wird. In dem die Trauerrituale in den Tagen nach dem Unfassbaren eben Trauerrituale für Erwachsene sind, in denen Erwachsene andere Erwachsene trösten, obwohl ein ziemlich großer Teil der Betroffenen aus Kindern und Jugendlichen besteht. Was für ein emotionales Brett- dieses Buch. Die Ausweichschule ist verstörend, grandios und auch zwanzig Jahre nach dem Attentat hochaktuell. Das der junge Autor in der Form der Erzählung eine Art Tagebucheintrag wählt, der seinen eigenen Konflikt beim Schreiben dieser Geschichte als Rahmen benutzt, ist nicht zufällig, sondern eifert seinem großen französischen Vorbild Emmanuel Carrère nach, der in diesem Buch zitiert wird und dieses Zitat vielleicht überhaupt zum Leitsatz für Kaleb Erdmanns schreiben geworden ist: „Was die Literatur betrifft, habe ich eine, eine einzige Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt.“
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025.